Kindermachergang
Geschichte einer Hamburger Straße

1994-1997 Lutz Mohnhaupt

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Die Wohnung


Der Plüschstil, vorherrschender Geschmack der Begüterten, den sich auch die Kleinbürger zum Vorbild nahmen, verbreitete sich bis in die Arbeiterwohnungen. Schließlich war um die Jahrhundertwende bis zum ersten Weltkrieg der größte Teil der Frauen vor der Heirat bzw. vor der ersten Niederkunft als Dienstmädchen in „Herrschaftshäusern“ tätig, eine der wenigen weiblichen Arbeitsstellen zu dieser Zeit überhaupt. So enstand als Pendent des Salons die "gute Stube", nur an Sonn- und Feiertagen benutzt, wenn Besuch kam. Diese absurde Tatsache führte dazu, daß die gesamte Familie in einem Zimmer schlief, wobei sich zwei Kinder oft ein Bett teilen mußten und die Kleinen meist bei den Eltern im Bett schliefen. Wenn vorhanden und nicht untervermietet, diente das dritte Zimmer als Wohnzimmer, eingerichet mit den Erbstücken der Eltern und Großeltern oder billig bei den Altwarenhändlern erstanden. Die zahlreichen "Trödler" holten den sogenannten "Bodenrummel", meist unmodern gewordene Einrichtungsgegenstände, aus den Häusern der Wohlhabenden. Schon für wenige Mark konnte so ein Biedermeierstuhl, eine Mahagonikommode oder anderes erstanden werden.



Wohnen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts


Kinderreiche Familien lebten nicht selten zu sechst oder acht in den Zwei-Zimmer-Wohnungen ohne Bad. Lebensmittelpunkt war die Küche, deren gemauerter Kochherd im Winter ständig beheizt war – wenn das Geld reichte. Oft schliefen die Eltern gemeinsam mit den Kindern im zum Schacht hin gelegenen, unbeheizten Schlafzimmer. Die „gute Stube“ war tabu und wurde nur an Sonn- und Feiertagen genutzt und geheizt. Wenn die Kinderzahl wuchs, mußte auch dieses Zimmer zum Schlafen hergerichtet werden.

Wurde das Einkommen durch Arbeitslosigkeit oder Lohnkürzungen gar zu knapp, so mußte untervermietet werden, die Familie hauste in dem dunklen Schlafzimmer und der Küche. Rentnerehepaare und Witwen waren wegen ihrer spärlichen Bezüge auf die Untervermietung angewiesen, wenn sich keine kleine Nebentätigkeit fand.



Der wichtigste Raum: die Küche


In den Zweizimmerwohnungen, die in der Kegelhofstraße die Mehrzahl stellen, blieb kein Platz für ein solches Wohnzimmer; da die "gute Stube" für gewöhnliche Tage tabu war, spielte sich das gesamte Leben der Familie in der Küche ab. Ohnehin war die Küche der Mittelpunkt der Wohnung,nur hier durften die Kinder bei schlechtem Wetter spielen. Hier wurde gekocht, gegessen, die Wäsche gewaschen und oft auch zum Trocknen aufgehängt, am Eßtisch machten die Kinder die Schulaufgaben, hier wurden die Nachbarn hineingebeten, die Körperwäsche in der großen Zinkwanne erledigt. Dieses "Baden" war überhaupt eine höchst aufwendige Angelegenheit: Das Wasser wurde in großen Töpfen erhitzt. Das nahm einige Zeit in Anspruch, so daß es keinesfalls möglich war, daß jeder in neu aufgesetztem, frischen Wasser badete. Die kleinen Kinder kamen zusammen in den Bottich oder wurden nacheinander ins gleiche Wasser gesetzt. Dieser vielfältigen Nutzung völlig unangemessen war die Belichtung und Belüftung der fast immer zum schmalen Lichtschlitz an der Hausrücksite gelegenenen Küche, wo man in den unteren Etagen an dunklen Tagen stets die Gaslampe brennen lassen mußte. Ende der zwanziger Jahre verfügten dann die meisten Häuser über elektrisches Licht.

Der Kohlenherd und der Ausguß aus emailliertem Blech gehörten zur festen Ausstattung der Küche. Da der Ausguß keinen verschließbaren Ablauf hatte, wurde das Geschirr in separaten Schüsseln abgewaschen, diese Schüssel diente meist auch der Körperreinigung. In der Kegelhofstraße sind, im Ggensatz zu den einfacheren Arbeiterhäusern, die Küchen rundum bis in Schulterhöhe gefliest. Eine niedrige Tür führte zur rund einen Quadratmeter großen Speisekammer. Der feste Herd stand in einer Wandecke und war ohne Rohr direkt an den Schornstein angeschlossen.


Außen mit weißen Kacheln verblendet, war er innen mit Schamottsteinen ausgemauert und verfügte über eine große, gußeiserne Herdplatte. In der linken unteren Seite befand sich die Backöhre. Die vor der Herdplatte angebrachte Herdstange und die Griffe waren in Messing ausgeführt. Vor dem Herd war statt des Holzfußbodens eine Terrazzoplatte eingelassen. Es wude mit kleinkörnigen Steinkohlen geheizt, die "singles" genannt und aus England importiert wurden. Später wurde heimsche Kohle benutzt. Viele Familien hatten sich einen kleinen, mehrflammigen Gaskocher angeschafft, der im Sommer, wenn nicht geheizt werden mußte, auf den Herd gestellt wurde, um zu kochen. Zwischen Fenster und Herd stand meist der Eßtisch, an der Wandseite vor dem Tisch die praktische Küchenbank. Vor dem ersten Weltkrieg wurde das Geschirr inder Regel noch auf Borden aufbewahrt, der praktischere Küchenschrank mit Aufsatz setzte sich erst später durch. Neben dem Ausguß hing der Handtuchhalter, auf dessen oberen Bord die Behälter für Schmierseife, Soda, Scheuerpulver standen. Die darunterhängenden Handtücher wurden durch ein über eine Stange gehängtes besticktes ("Eigner Herd ist Goldes wert") "Paradehandtuch" verdeckt.


Zu den härtesten Haushaltsarbeiten überhaupt gehörte das Waschen. Da die Häuser in der Kegelhofstraße über keine Waschküchen verfügen, mußte sich hier die ganze feuchtdampfende Arbeit in der Küche abspielen: Es begann damit, daß die Wäsche auf dem Herd oder im Sommer, wenn vorhanden,auf der Gasflamme im großen Topf erhitzt wurde. Waschmittel, die die Arbeit mit den mechanischen Helfern, wie dem Reibebrett (Ruffel) erleichtern, sind erst ab -DATUM WASCHMITTEL ERHÄLTLICH- erhältlich. Nach dem Erhitzen wurde die Wäsche sorgfältig auf dem Ruffel geschrubbt, bis sie sauber war, jedoch ohne sie übermäßig zu beanspruchen. Anschließend wurde der Wäschewringer am Tisch bzw. am Waschzuber verschraubt, die Wäsche hindurchgedreht, damit das meiste Wasser "abtropfen konnte. Wer – vor allem im Winter – die Möglichkeit hatte, die große Wäsche reihum mit den anderen Mietern auf dem Trockenboden zu hängen, verfügte in der Küche anschließend noch über genügend Platz, am Tisch zu sitzen oder zu kochen, weil die Wäsche dort nicht an Leinen gehängt werden mußte. In den wärmeren Jahreszeiten wurden die Sachen meist zum Trocknen an Gestelle gehängt, die unter den nach hinten gelegenen Küchenfenstern angebracht waren. Das Trocknen auf dem Balkon war durch die Hausordnung untersagt. Die große Wäsche konnte durchaus 6-8 Stunden in Anspruch nehmen.


In den zwanziger Jahren waren bereits die ersten Waschmaschinen erhältlich – die Preise betrugen um 1930 knapp 200 Reichsmark für eine solche ohne Schleuder, knapp 600 Reichsmark für eine Maschine, die auch schleudert. Der damalige Stundenlohn eines Facharbeiters: 1,03 Reichsmark... das einfache Modell kostete also in etwa den Gegenwert eines Monatslohns, unerreichbar, wenn man lediglich ein paar Notgroschen ansparen konnte, abgesehen "davon, daß die gasbeheizten Geräte eine Größe hatten, die die Aufstellung in der 10-12 m² großen Küche unmöglich machte.


Der Balkon


Jede im Stockwerk gelegene Wohnung verfügte über einen, wenn auch kleinen Gitterbalkon, gleichgültig, ob die Räume zur Straße oder nach hinten gelegen waren. Diese, vor die Fassadenfront gehängten Balkone hatten sich in Hamburg bereits in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts durchgesetzt, nur in den billigsten Wohnquartieren wurde auf sie verzichtet. Obgleich sie bei dem typischen Hamburger Wetter zum Aufenthalt wenig geeignet waren, wurden sie von den Mietern als Komfort begrüßt und von den Architekten als gestaltendes Element eingesetzt. Hier wurde das Zeug ausgebürstet, Kleinholz geschlagen, die Schuhe geputzt und – trotz Verbot durch die Hausordnung – Wäsche zum Trocknen aufgehängt und im ersten Weltkrieg Kaninchenställe eingerichtet.




Wohnen im Wandel: Die Zwanziger


Zum Ende der zwanziger Jahre beginnend, wandelte sich der Wohnstil langsam. Die plüschige und unsinnige, weil meist leerstehende "gute Stube" verschwand im Laufe der Jahrzehnte und machte dem zunehmend nüchternen Wohnzimmer Platz oder wurde durch das Kinderzimmer verdrängt vorausgesetzt, die Familie mußte wegen geringen Einkommens oder Arbeitslosigkeit nicht untervermieten. Auslöser des Wandels der Wohnkultur waren das Bauhaus, das "Neue Frankfurt" und die Werkbundausstellungen, die mit ihren Entwürfen auch in der Arbeiterbewegung Diskussionen auslösten. Während die Zeitschriften der SPD und KPD diese neue Kultur positiv aufnahmen und zu ihrer Sache machten, stand die Arbeiterschaft dieser aus unterschiedlichen Gründen meist ablehnend gegenüber.


Vor dem Hintergrund der Massenverarmung durch die Inflation wollten die Architekten und Designer durch moderne industielle Massenproduktionsweise brauchbare und vor allem zweckmäßige Möbel und Haushaltsgegenstände preiswert herstellen. Haushaltsgegenstände und Möbel wurden meist noch Stück für Stück in Handwerksbetrieben hergestellt. Slogans wie "nur das Zweckmäßige ist schön" warben für ein Design, das das zweckmäßige in den Vordergrund stellte, ohne seine industrielle Herkunft zu verleugnen.


Die materielle Situation der Arbeiterfamilien ließ Überlegungen in Hinsicht auf die Einrichtung jedoch meist nicht zu, man nahm, was günstig zu bekommen war, an die Möbel wurden keine Ansprüche gestellt, wer eingerichtet war, für den hatte sich die Sache erledigt. Die Sachen waren hart erarbeitet, sie waren haltbar. Nur die wenigsten, die es sich leisten konnten waren bereit, noch brauchbare Einrichtungsgegenstände hinauszuwerfen und gegen neue zu ersetzen.


Im Baustil begann sich die "neue Nüchternheit" eher durchzsetzen. Die um 1927 von der Schiffszimmerer-Genossenschaft in der Kegelhofstraße erbauten "Burgen" präsentieren sich bar jedes Stuckzierrats. Die Küchen wurden rundum in schlichtem Weiß gefliest.


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